Woran starben unsere Vorfahren? Fraisen

„Da krieg’ i ja die Pockerlfras!“

Diese Redewendung kennt man vielleicht noch. Es bedeutet, dass man sich stark aufregt und vor Wut zu zittern beginnt.

In dem Wort „Pockerlfras“ steckt die Bezeichnung für eine Todesursache, auf die vor allem der Tod von Säuglingen in früheren Jahrhunderten zurückgeführt werden kann: die Fraisen (oft auch als Fraißen, Frasen oder Freisen bezeichnet).

Herkunft der Bezeichnung

Das Wort stammt vom mittelhochdeutschen „vreise“, was Angst, Wut oder Schrecken bedeutet. (1)
(„Pockerl“ ist übrigens eine alte Bezeichnung für den Truthahn.)

Fraisen wurde als Überbegriff für alle Kinderkrankheiten mit Krämpfen verwendet. (2)

Krankheitsbild und Ursache

In der österreichischen Hebammenzeitung aus dem Jahr 1910 wird das Krankheitsbild folgendermaßen geschildert:

Hebammenzeitung 1.Juli 1910, Seite 286, via ANNO der Österreichischen Nationalbibliothek

(Transkription: Die Fraisen: Eine der häufigsten und beängstigendsten Krankheitsformen der kleinen Kinder sind die Fraisen. Ein in Fraisen liegender Säugling zeigt in erster Linie eine große Ähnlichkeit mit einem epileptischen Anfall der Erwachsenen. Der einzelne Anfall beginnt mit Verdrehen der Augen nach oben oder nach der Seite mit unheimlicher Starrheit des Blickes, der ein Schwinden des Bewusstseins vermuten läßt. Es bestehen Zuckungen der Gesichtsmuskeln, häufig nur einseitig mit Verziehung des Mundwinkels, wobei die Kiefer durch Krampf geschlossen und bei älteren Säuglingen unter Zähneknirschen aneinander verschoben werden. Im Vordergrund steht die Starrheit der Muskulatur, der Arme und Beine, die von kurzen, wie durch elektrische Ströme erregten Zuckungen mehr oder weniger häufig unterbrochen wird.)

Tatsächlich war die häufigste Ursache für Fraisen die oft knapp hintereinander liegenden Schwangerschaften der Frauen. Diese lösten einen Kalk- und Vitamin D Mangel bei den Schwangeren aus, die dann bei den Kindern meist im Alter von 3 Wochen zu Krampfanfällen und zum frühen Tod des Säuglings führte (1).

Bei den ersten beiden Kindern waren die Überlebenschancen höher, da die Mutter noch über Reserven verfügte, doch je mehr Kinder knapp hintereinander geboren wurden, desto geringere Überlebenschancen hatten die Säuglinge. Die Chancen eines Säuglings zu überleben, waren wesentlich größer, wenn zwischen den Geburten zumindest zwei Jahre lagen, da sich die Kalkreserven der Mutter in dieser Zeit regenerieren konnten. Kalklieferant war meist Kuhmilch.

Unseren Vorfahren war der Grund der Krampfanfälle nicht bekannt. Sie vermuteten, dass die Krankheit durch Angst und Schrecken der Mutter in der Schwangerschaft oder in der Stillzeit verursacht wurde. (3) Bei manchen Familien meiner Vorfahren konnte ich übrigens beobachten, dass die Abstände zwischen den Schwangerschaften größer waren, es dürfte also zumindest intuitiv ein Zusammenhang hergestellt worden sein.

Bei älteren Personen wurden oft Krampfanfälle und Epilepsie als Fraisen bezeichnet.

Versuche der Heilung

Um die Fraisen von anderen Krankheiten zu unterscheiden wurde manchmal dem Kind kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet. Beruhigte sich das Kind dadurch nicht, litt es unter einer anderen Krankheit (3).

Eine andere Idee war, Schrecken mit Schrecken zu bekämpfen und dem Kind eine Ohrfeige zu geben. (3)

Weitere Möglichkeiten bot die Magie. Ich habe unzählige Dinge gefunden, die gegen Fraisen helfen sollten. Hier nur ein paar:

  • Fraisenhauben waren kunstvoll gestaltete Kappen, die aus keilförmigen Leinen oder Seidenstücken genäht wurden. Auf die Hauben wurden religiöse Symbole aufgemalt, wie zum Beispiel die Mutter Gottes oder der Heilige Valentin, Schutzpatron der Fallsüchtigen. Sie wurden der Mutter bei der Geburt aufgesetzt und oft auch später dem Säugling, um die Krämpfe zu verhindern. Auf der Homepage der Wiener Zeitung sieht man, wie eine solche Haube ausgesehen hat. (4), (5)
  • Fraisbriefe waren große Zettel, die mit Segensformen (Benediktussegen, Agathensegen, Zachariassegen und Dreikönigssegen), frommen Wünschen oder Gebeten bedruckt waren und neunteilig gefaltet wurden. Sie wurden dem Kind zum Schutz auf die Brust gelegt. (1), (5)
    Im Forum von www.sagen.at findet ihr ein Beispiel.
  • Fraisensteine waren Tonplättchen von einem Wallfahrtsort mit einem Gnadenbild der Heilstätte. Von den Steinen wurde etwas Ton abgeschabt und als Medizin in Getränke gemischt und getrunken. (1), (5)
  • Fraisenketten: Eine Fraisenkette enthielt mehrere Amulette (meist eine ungerade Anzahl).
    Auf der Homepage des SRF findet sich ein Beispiel für eine Fraisenkette. Die verwendeten Amulette waren vielfältig: Franziskuspfennige, verkümmerte Rehgeweihe („Kümmerer“), Wolfszähne, Marienmedaillen, mumifizierte Mäuseköpfe, Auerhahnzungen, verbrannte Pfauenfedern, Schwalbennester oder auch Teile der getrockneten Nabelschnur. (1), (5)

Wellcome Library, London, Fraiskette. Collection: Wellcome Images Copyrighted under CC BY 4.0

Meine Vorfahren

In meinem Stammbaum habe ich die älteste Eintragung von Fraisen als Todesursache im Jahr 1789 gefunden (davor waren allerdings die Todesursachen selten oder gar nicht in Kirchenbüchern aufgeführt) und die späteste im Jahr 1914.

Hier nur ein Beispiel für einen tragischen Säuglingstod aufgrund von Fraisen: Barbara Stich, Tochter von Paul Stich, Kleinhäusler uns seiner Frau Barbara, starb am 17.08.1805 im Alter von 9 Monaten „in ihres Vaters Hause Nr. 23“. Sie war das jüngste von 9 Kindern des Ehepaares.

Quellen

(1) „Mit Magie gegen die Bockerlfraß“, Wolfgang Regal/Michael Nanut, Ärzte Woche 22/2007, © 2007 Springer-Verlag GmbH, http://www.springermedizin.at/artikel/8758-mit-magie-gegen-die-bockerlfrass-narrenturm-101

(2) Meyers Kleines Konversations-Lexikon, Siebente, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage in sechs Bänden, Leipzig und Wien 1908, zweiter Band, Schlagwort „Fraisen“

(3) Heilwissen in alter Zeit: Bäuerliche Heiltraditionen, Inge Friedl
Leseprobe bei google books

(4) Homepage der Wiener Zeitung, Artikel „Wiener Museumsstücke, Therapien mit Hauben und Hühnern“ vom 29.11.2005, Autor Johann Werfring

(5) Wikipedia, Eintrag „Fraisenkette“

14 Kommentare zu “Woran starben unsere Vorfahren? Fraisen

  1. Hallo miteinander,
    1952 ist meine Schwester (3.Kind meiner Mutter) durch die Fraisen mit 5 Tagen verstorben.
    Meine Mutter erzählte uns immer davon und auch die nächste Schwester hat 1957 wohl auch dieselben Symptome gezeigt. Nachdem aber meine Mutter das Krankheitsbild kannte, konnte diese gerettet werden und geht ihr gut.
    Doch nun hat ihre Tochter (meine Nichte) im 8. Monat am 15.06.2021 durch Kaiserschnitt ein Mädchen entbunden. Am 2. Tag fand meine Nichte ihren Säugling mit den oben beschriebenen Symptomen im Bettchen vor. Sie nahm sie sofort auf den Arm und informierte die Kinderkrankenschwester. Nun wird sie wegen der Krämpfe noch mit EEGs überwacht.
    Nach meiner Recherche hier habe ich die Beschreibung des Krankheitsbildes gefunden.
    Wir sind froh, dass das Kind bis jetzt keine derartigen Krämpfe mehr hatte.

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  2. Thank you for this information. I was trying to understand the cause of death of an ancestor’s child in Bohemia in 1855 which was listed as „friessen“. The child was born in April and died two months later. This was the 9th or 10th child of the mother, and the previous child had been born 15 months earlier. Most earlier children were spread 2 years apart and seem to have survived. The season of birth fits with the possibility that the mother was deficient in Vitamin D, because most of her pregnancy would have been during the winter months when there would have been little Vitamin D production from sunlight exposure on skin. I don’t know anything about her diet, but the family was supposedly poor, so she may not have had much dairy or other sources of dietary Vitamin D.

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  3. Weiß das jemand? Im Jahr 1757 wurde eine „Volkszählung“ durchgeführt, wobei für jedes Anwesen die Bewohner (Besitzer, Kinder, Dienstboten) im Matrikelbuch (damals zu Salzburg gehörig) aufgelistet wurden. Das erstgenannte Kind erhielt meist den Zusatz C: C: C: Was kann das bedeuten? Legitimes Kind, ehelich gezeugt…? Oder …?

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    • Hallo Mathilde, das ist mir ehrlich gesagt noch nicht untergekommen in Nieder- oder Oberösterreich. Hast du vielleicht einen link, wo man das sehen kann? Römische Zahlen können es nicht sein, nehme ich an? liebe Grüße, Julia

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    • Hallo, leider habe ich das noch nicht gelesen, was mir aber in einem alten (Adoptiv)Vertrag untergekommen ist: „der m. Sohn des…“ bzw. „sein m. Sohn“ – ich denke nicht, dass dies eine Abkürzung für „männlich“ sein kann, das wäre ja unsinnig in Kombination mit „Sohn“. Weiß jemand, wofür dieses m. stehen könnte? Der Vertrag ist auf deutsch verfasst, also denke ich nicht dass es eine lateinische Abkürzung sein kann…. danke! LG

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      • In Adoptivverträgen ist möglicherweise von Kindern im schulpflichtigen Alter die Rede, daher könnte m. für ‚minderjährig‘ stehen.

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      • Hallo, danke für eure Tips. Es könnte wirklich minderjährig heißen, der Mann war zwar bereits 21 Jahre alt als er adoptiert wurde, aber das war zu diesem Zeitpunkt in Österreich noch minderjährig!

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  4. Ja, die Fraisen … Meine Ururgroßmutter (geb. 1806) hat jedes Jahr ein Kind bekommen – zunächst zwei, die überlebten, dann nacheinander sieben Kinder, die alle im Säuglingsalter gestorben sind, Ursache waren immer Krämpfe. Das ist erschütternd! Beim Nachforschen bin ich im Internet auf die Fraisen gestoßen und finde auch hier meine Ergebnisse bestätigt. Danke für die Info!
    Es kommt wohl auch auf die körperliche Konstitution an. Meine Großmutter (geb. 1862) hatte 14 Kinder, also jedes Jahr eines, Fraisen sind nicht vorgekommen, zwölf der Kinder haben ein hohes Alter erreicht.
    Viel Erfolg beim Stöbern in der Schatzkiste der spannenden Ahnenforschung!

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    • Hallo Mathilde, vielen Dank für den Kommentar. Ja, die Konstitution war sicher ein wesentlicher Faktor. Wenn der Vitam D Haushalt gepasst hat (zB auch durch gute Ernährung), war die Wahrscheinlichkeit von Fraisen sicher wesentlich geringer. liebe Grüße, Julia

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  5. meine Grossmutter, Jahrgang 1869, hat 8 Kinder geboren, innerhalb von 1892 bis 1912.
    Vier Kinder starben an Krämpfen als Säugling bzw. Kleinkind. Meine Mutter, geb. 1900
    hat den Tod der kleineren Schwestern 1906 und 1912 miterlebt. Es wäre ganz schrecklich
    gewesen.

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  6. Hallo Julie, sehr hilfreich. Ich habe diese Todesart im Adlergebrige / Böhmen gefunden, was bis 1918 unter österreichischer Herrschaft stand. Danke für Deine Arbeit

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  7. Pingback: Wolfgang Bayer – Schullehrer in Böhmen im 18. Jahrhundert – Julies Schatzkiste

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